Nachlese zum Abstimmungssonntag
2024-03-09
Am 3. März um 12h07 publizierte ich eine erste Projektion zur Abstimmung über die 13. AHV-Initiative: 60% ja, 17.5 Kantone dafür. Die Projektion benutzte ein einfaches Modell und verglich die Kantonsresultate mit denjenigen der AHV-Plus-Initiative, die 2017 41% Ja-Stimmen erreichte. Es gab Teilresultate aus Graubünden, Waadt, Wallis und Zürich, und diese waren spektakulär. Sie kündigten an, was sich am Nachmittag in fast allen Kantonen bestätigen sollten. Die Initiative schnitt fast überall 15-20% besser ab als 2017. Vor der Abstimmung hatte man im Zusammenhang des Stöndemehrs von Swing States gesprochen, aber niemand hatte damit gerechnet, dass auch Aargau und St. Gallen dazu gehören würden. Das Schlussresultat mit 58% Ja-Stimmen und 15 Ständen bestätigte schliesslich, was sich ab Mittag abzeichnete. Ein klares Mehr und überhaupt nicht knapp.
Ist die Schweiz, die vor ein paar Monaten an den Wahlen noch einen schmerzhaften Rechtsrutsch erlebte, über die Nacht links geworden? Abstimmungsumfragen, Wählerstromanalyse und erste Nachwahlumfragen deuten nicht darauf hin. Mit Ausnahme einer Desertion der Hälfte der SVP-Wählerschaft handelte es sich um eine klassische Links-Rechts-Vorlage, die unter normalen Umständen wie alle linken Initiativen im Verhältnis 40:60 abgelehnt worden wäre.
Die Konstellation wurde aber überlagert von einer massiv höheren Stimmbeteiligung (58% statt 43%). In den Umfragen gab es eine einmalig hohe Zustimmungsrate bei den Parteiungebundenen (über 80%) sowie eine starke frühe Festigung der Meinungsbildung. Man kann annehmen, dass die zusätzlichen 15% fast alle ja gestimmt und der Initiative zur Annahme verholfen haben. Man kann damit von einem Machtwort der Schweigenden Mehrheit sprechen.
Zwischen AHV-Plus und 13. AHV liegen Covid, ein Krieg, ein Ansteigen der Inflation und eine Credit Suisse-Rettung. Die Bevölkerung hat gesehen, wie die Regierung massiv Mittel freisetzen kann, wenn es nötig ist. Sie hat auch gesehen, dass die Reichen sich ungeniert bedienen, gleichzeitig die Regierung der Bevölkerung Sparprogramme predigt. Die Spannweite zwischen Wein trinken und Wasser predigen wurde zu gross. "Wir müssen jetzt auch mal zu uns selber schauen" war sicher eine der Motivationen, an die Urne zu gehen und ja zu stimmen.
Es gab somit eine Konjunktur, die bei der Lancierung der Initiative noch nicht voraussehbar war, und die Linke hat taktisch gut gehabdelt, an einem Projekt festzuhalten, das mit der Giesskanne allen etwas bringt, anstatt gemäss der hehren Absicht der Bürgerlichen "gezielt nur den Bedürftigen zu helfen". Die Voraussicht, selber auch in den Genuss einer Erhöhung zu kommen, erhöhte dramatisch die Wahrscheinlichkeit für eine Annahme.
Auch wenn die Konstellation einmalig ist, so ist doch das Abstimmungsresultat historisch. Erstmals wurde eine Initiative der Gewerkschaften angenommen. Erstmals seit Jahrzehnten gab es eine Zustimmung für eine Vorlage, die soziale Fortschritte bringt. Den Linken ist es zwar in den letzten Jahren immer wieder gelungen, gesellschaftspolitische Fortschritte in Abstimmungen durchzubringen (Ehe für Alle, Fristenlösung) oder auch mit zum Teil
krachenden Mehrheiten Sozialabbau und Steuergeschenke mit Referenden zu bekämpfen. Man erinnert sich daran, dass 2010 die Senkung des Umwandlungssatzes der Pensionskasse mit 73% abgelehnt wurde - 2024 wird es nicht anders sein.
Historisch ist die 13. AHV-Initiative, weil es der Linken erstmals gelungen ist, sozialpolitisch gestalterisch einzugreifen.
Kann dieser Erfolg wiederholt werden? Vielleicht. Es hängt davon ab, dass die Linke versteht, welche schweigende Mehrheit ihr zur Mehrheit verholfen hat, dass sie den Kontakt mit ihr aufrecht hält und die Zusammenarbeit, falls von den Interessen geeignet, wieder aktiviert.
Abstimmungsmehrheiten müssen immer ausserhalb des eigenen politischen Lagers gesucht werden. Es handelt sich um sachbezogene Konstellationen, wo man in einem einzelnen Punkt gleiche Interessen hat, wenn man auch sonst das Heu nicht auf der gleichen Bühne hat. Dass solche Entscheidungsprozesse möglich sind, ist ein Wunder der direkten Demokratie.
Wie setzt sich diese schweigende Mehrheit zusammen? Die Nachwahlbefragung wird mehr Erkenntnisse bringen. Zur Zusammensetzung gibt es aber schon Vermutungen. Es sind Frauen und Männer, in allen Sprachregionen, sowohl Stadt wie Land, eher mit tieferen Einkommen, eher mit weniger Schulbildung. Es ist eine Gruppe, die praktisch nicht in den Parlamenten vertreten ist und die eigenen politischen Rechte wenig nutzt. Sie ist vermutlich eher konservativ und - zur grossen Verzweiflung von Economiesuisse - für klassische politische Argumente nicht zugänglich, weil sie sich nicht einbezogen fühlt. Betroffen sehen sie sich schon, aber in der Regel haben sie sich damit abgefunden, dass sie keinen Einfluss haben.
Man könnte einen grossen Teil dieser Gruppe auch mit dem Wort Arbeiterschaft beschreiben. Dies ist etwas eine Verkürzung, denn die Mehrheit der klassischen Arbeiterschaft ist in der Schweiz gar nicht stimmberechtigt. Trotzdem kann hier der zweite historische Element erwähnt werden: Mit dieser Initiative hat die Linke den Populismus zurückgedrängt wie schon lange nicht mehr. Die Linke hat dieser Gruppe gezeigt, dass es mit dem sozialen Fortschritt auch andere Antworten auf ihre Alltagsprobleme gibt, als auf Ausländern, Frauen und Minderheiten herumzuhacken. Die Tatsache, dass die SVP gegen ihre eigene Basis die Nein-Parole beschlossen hat (mit Ausnahme von ein paar intelligenten Sektionen), erweist sich im Nachhinein als Vorteil. Die SP hat ihren Kontakt mit der Arbeiterschaft wieder gefunden, welche in ihr eine glaubwürdige Alternative zum Rechtspopulismus sieht.
SP und Gewerkschaften können damit arbeiten. Sie können, wenn sie beruhigt souverän auftreten und akzeptieren, dass die Motivationen zur Annahme und Ablehnung von Vorlagen sehr unterschiedlich sein können, sicher bei Referenden wieder Mehrheiten schaffen, und auch die Prämieninitiative bekommt Chancen im Sinne von: "Jetzt müssen wir auch etwas für die aktive Generation machen." Mittelfristig kann die SP auch traditionelle Wählerschaften zurückgewinnen. Die SP-Basis ist soziologisch divers aufgestellt, an der Zusammensetzung der Gewählten kann gearbeitet werden.
Anders ist die Herausforderung für die Grünen. Sie stehen bei der sozialen Frage nicht im Vordergrund, auch wenn viele von ihnen in den Gewerkschaften tragende Rollen tragen. Die Frage stellt sich, ob auch bei Umwelt- und Klimafragen solche Mehrheiten möglich sind.
Dazu muss stärker als bis anhin eine politische Ökologie entwickelt werden. Die Grünen haben bis jetzt ihren Projekten zu sehr nur darauf verlassen, dass sie mit ihren Ideen rational recht haben und das Richtige tun. Das ist - heftig gesagt - ein etwas technokratischer Ansatz.
Eine politische Ökologie würde von der Grundannahme ausgehen, dass Umweltpolitik nur im Rahmen einer generellen Politik möglich ist, das heisst in einer demokratischen Auseinandersetzung, welche die legitimen Interessen der einzelnen Gesellschaftsgruppen berücksichtigt.
Wir wissen, dass unsere Gesellschaft über die eigene Verhältnisse lebt, dass es kein ewiges Wachstum gibt und dass sich sowohl die Knappheit der Ressourcen wie auch die Zerstörung der Lebensgrundlagen immer mehr zum Hauptproblem werden. Wenn wir uns aber als demokratische Gesellschaft verstehen, können wir das nur friedlich regeln, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen einbezogen werden. Die Aushandlung der ökologischen Transformation ist unumgänglich, und es ist Aufgabe der politischen Ökologie, wie aus einer aktuellen Minderheitsposition mehrheitsfähige Lösungen gefunden werden.
Was sind die Voraussetzungen, für die Umwelt- und Klimapolitik auch
Mehrheitskonstellationen zu schaffen? Die Umwelt ist ein kollektives Gut, wo nicht Eigeninteressen von Stimmenden aktiviert werden können. Im Gegenteil: es ist mit Verteilkämpfen zu rechnen, die mit den Schäden der Klimakrise umgegangen werden soll.
Gleichzeitig haben die Grünen selber ein personelles Problem. Es gibt viele sehr aktive Mitglieder, die Ausserordentliches erreicht haben, aber die Mitgliederbasis ist klein und soziologisch ausserordentlich eng, massgeblich akademisch.
Es stellen sich grundsätzliche Fragen der politischen Ökologie, welche überdenkt werden sollen, wenn Mehrheiten gesucht werden. Die erste Abstimmung zum CO2-Gesetz hat gezeigt, wie schwierig es wird, wenn die sozialen Konsequenzen von Abgaben nicht zu Ende gedacht werden. Doch diese Diskussion betraf nur die Folgen (CO2-Abgaben), aber nicht die Ursachen (CO2-Emissionen). Studien haben mehrfach gezeigt, dass eine Kennzahl wie durchschnittlich 5 Tonnen CO2 pro Person in die Irre führt, weil die Emissionen stark unterschiedlich verteilt sind. Der Lebenswandel der reichsten Bevölkerungsgruppe ist für den Grossteil der Emissionen verantwortlich, während die ärmste Gruppe in doppelt benachteiligt ist: sie sind auch die ersten, die unter den Klimafolgen leiden werden.
Die politische Ökologie sollte deshalb die Klimakrise mehr als ein ökonomisches Problem betrachten. Das Problem der CO2-Emissionen ist ein Mengenproblem. Um sie zu senken, muss man dort ansetzen, wo der Effekt am grössten ist. Wo dies nicht möglich ist, muss man mit Kompensationen arbeiten, welche die legitimen Interessen der Gesellschaftsgruppen berücksichtigen.
Der Pfad für Mehrheiten bei der Unwelt- und Klimapolitik ist eng, aber es gibt einen, wenn die Grünen folgendes beachten:
- Die politische Ökologie muss die Ursachen, Mengen der Emissionen und die sozialen Folgen ins Zentrum des Dispositivs setzen.
- Die protestantischen Appelle an die individuelle Verantwortung und Schuldzuweisungen zum persönlichen Verhalten sind kontraproduktiv und sollten aufgegeben werden.
- Die Grünen sollten an der soziologischen Diversität ihrer Mitgliedschaft arbeiten und Mitglieder ohne akademischen Hintergrund aktiv fördern.
Die Grünen haben diesen Frühjahr eine neue Präsidentin, die angekündigt hat, in den Kantonen präsent und nahe an der Basis zu sein. Dies ist auch eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie die Grünen mit der breiten Bevölkerung kommuniziert.